War die Zukunft einmal wichtiger als heute? Zumindest durfte der Zukunft selten zuvor mehr gehuldigt worden sein. Doch zu welchem Nutzen? OSRAM-Innovationschef Thorsten Müller und Zukunftsforscher Bruno Gransche haben über Sinn und Unsinn sowie die Perspektiven für das Jahr 2030 debattiert.
Technik sucht Problem
Wer über die Zukunft nachdenkt, dem kommen Bilder aus Science-Fiction-Filmen in den Sinn: fliegende Autos, gebeamte Menschen oder kuriose Hightech-Maschinen. Eines haben die meisten Zukunftsfantasien gemein: Sie sind technisch geprägt. Und so haben auch die Erwartungen für unser Leben in einer smarten Welt – so vage sie auch sein mögen – fast immer mit Technik zu tun. „Das große Potenzial der Technik liegt darin, als Person mehr Dinge besser selbständig zu können als ohne die Technik“, erklärt Bruno Gransche von der Universität Siegen.
„Ein Vorteil von Technik ist, dass sie gleichzeitig weniger und mehr liefert, als man vorhatte.“ Für die Anbieter von Technik liegt genau hinter diesem Prinzip die große gedankliche Herausforderung. „Häufig haben Unternehmen den Modus Operandi: Technik sucht Problem“, sagt Thorsten Müller. „Oft gestaltet man Technik, weil man es kann. Nicht weil man einen bestimmten Nutzen davon hätte. Denken Sie mal an den Eject-Knopf auf der Fernbedienung eines CD-Players. Auf der Fernbedienung ist das eine Absurdität“, ergänzt Gransche.
„Es passiert, dass wir mit unserer Innovationshypothese zum Kunden gehen, zum Beispiel mit Technik für vorausschauende Wartung. Und der Kunde ist auch gleich hellauf begeistert. Und mit der Zeit stellen wir fest: Das Problem liegt eigentlich ganz woanders. Daher ist es wichtig, gemeinsam – im Dialog mit dem Kunden – dessen wirkliche Bedürfnisse zu erkennen“, berichtet Müller aus seinen Erfahrungen. Ein Versprechen, das jeder Innovation immanent zu sein scheint, ist der Zeitgewinn. Das sieht Gransche jedoch als „die Jahrhundertlüge der Technik“. Denn der Zeitgewinn werde durch gegenläufige Effekte, sogenannte „Rebound-Effekte“, wieder abgefangen.
Schlauere Produkte durch Fachkräftemangel
Die beiden Experten sind sich einig: Wie die Welt 2030 aussieht, kann letztlich niemand vorhersehen. „Aber wir sollten trotzdem unsere Fantasie bemühen, denn das inspiriert aus meiner Sicht“, so Müller. „Es ist wichtig, konsistente Szenarien zu entwerfen. Wir haben für die Entwicklung von vernetzten Gebäuden oder dem Autonomen Fahren verschiedene, selbständige Szenarien entworfen. Davon wird sicher keines exakt so eintreffen, aber idealerweise werden dadurch einige Entwicklungen vorausgesagt. Außerdem haben wir jetzt Frühindikatoren, die wir beobachten müssen“, sagt OSRAMs oberster Innovator.
„Wenn man sich Entwicklungen wie die City-Maut in London oder das drohende Diesel-Fahrverbot in Stuttgart ansieht, ist es nicht unwahrscheinlich, dass irgendwann Verbrennungsmotoren in der Innenstadt verboten werden. Das löst Folgeentwicklungen aus, etwa zu Sharing-Economy und Autonomem Fahren. Zugleich muss man darauf achten, ob sich lokale Ökosysteme ausprägen und dann etwa ein für Stuttgart entwickeltes autonomes Elektroauto nicht in London fahren kann.“
Auch demographische Entwicklungen können in dem Zusammenhang zu neuen Herausforderungen führen. „Wir stehen bei der Entwicklung unserer Produkte mittlerweile auch vor dem Problem, dass diese nicht mehr ausschließlich von qualifizierten Handwerkern installiert werden. Daher muss das Produkt sich selbst konfigurieren können. Es muss wissen: Was bin ich, wo bin ich, und wie binde ich mich hier ein?“, erzählt Müller.
Heilung durch Schlamperei
Bei aller Planung – Fortschritt braucht auch Genie und Chaos. „Es gibt viel Technik, die keiner vorausgesehen hat. Nehmen Sie das Beispiel Penicillin, das nur entdeckt wurde, weil jemand eine schmutzige Petrischale über den Sommer im Labor vergessen hatte“, erinnert Gransche an die Entdeckung des Antibiotikums. Die Wünsche von Kunden abzufragen helfe nur bedingt. „Die visionären Ideen findet man bei Nutzern eher weniger. Wenn man früher die Leute gefragt hätte, was sie sich zur Mobilität wünschen, hätten sie gesagt: ‚Schnellere Pferde‘.“
Andererseits gehe mit dem technischen Fortschritt auch oft der Verlust von persönlichen Fähigkeiten einher. „Man kann den Menschen mit bequemer Technik hervorragend Fähigkeiten aberziehen. Das ist gar kein Problem, solange wir uns dessen bewusst sind und das wollen. Ich weiß zum Beispiel nicht, wie man ein Pferdefuhrwerk lenkt. Dafür kann ich noch eine Gangschaltung im Auto bedienen, die in Amerika wiederum schon eine probate Diebstahlsicherung wäre.“
Die Vermittlung der Chancen und Risiken bleibt auf dem Weg in die Zukunft häufig auf der Strecke. Das sehen wir exemplarisch in Deutschland, wo die „Schizophrenie des Fortschritts“ sich besonders gut zeigt: Der Fortschrittslust steht eine nicht geringere Angst gegenüber. „Wir müssen aufzeigen, dass die Vorteile des technischen Fortschritts dessen Nachteile überwiegen. Dabei sind drei Aspekte ganz wichtig: Verständlichkeit, Transparenz und Freiwilligkeit“, sagt Müller. „Die Gefahr lauert in dem Komfortversprechen vieler Technik. Manche Konzerne traten mit dem Versprechen an, die Welt zu verbessern. Letztlich liefern sie mittlerweile Bequemlichkeitstechnik für Privilegierte“, mahnt Gransche. „Ich würde mir wünschen, dass man sich mit den großen Visionen zurückbesinnt auf Verbesserungen für die Mehrheit der globalen Gesellschaft. Denn Kunde sein muss man sich leisten können. Und wiederum können wir es uns als Gesellschaft nicht leisten, nur auf Kunden zu achten.“
Unterstellt an, dass es wirklich zu einer immer stärkeren Vernetzung weltweit und der großen Lebensbereiche kommt, so sieht Müller den Schlüssel für Wohlbefinden in einer digitalen Zukunft, in der Bildung und einem kreativen Umgang mit Technik: „Ich glaube, was das Thema Technik bei uns wieder anregen sollte, ist die Neugier, der Wunsch, sich mehr Wissen anzueignen.“ Voraussetzung dafür ist natürlich der gleiche Zugang zu Bildung – eines der großen politischen Versprechen des vergangenen Jahrhunderts, das immer noch nicht vollständig eingelöst ist.
Den Zwilling programmieren
Gerade deswegen sehen Müller und Gransche die immer weitere Erfassung von Daten des Einzelnen in der Zukunft durchaus kritisch. „Die riesige Herausforderung besteht in der immer komplexeren Rolle des Verbrauchers. Er wird zunehmend überfordert. Ich bin skeptisch, ob es da eine Lösung gibt. Es besteht ein sehr großes Fremdbestimmungspotenzial“, blickt Gransche auf die fortschreitende digitale Vermessung des Einzelnen und den Aufstieg der Künstlichen Intelligenz.
In dem Zusammenhang wird die Vision für 2030 doch recht konkret. „Ich werde irgendwo mit meinem digitalen Datenzwilling in der Zukunft zusammenleben. Die intelligenten Systeme, also das Haus, das Auto, das Hotel, das Fitnessstudio, der Arbeitsplatz, werden sich auf diesen digitalen Zwilling einstellen. Der basiert auf meinen vergangenen Präferenzen. Ich würde mich sehr freuen, dass die Systeme es noch zulassen, dass ich es mir anders überlegen kann“, formuliert Gransche seinen Wunsch für die Zukunft. Für Innovationschef Müller erfasst die Technik zunehmend einen ganz entscheidenden Aspekt des modernen Individuums: „Es geht um Selbstbestimmung. Mir ist wichtig, dass ich in die Antwort des Systems auf mich noch selbst eingreifen kann“, sagt Müller. „Wenn mir beispielsweise am Arbeitsplatz eine früher bevorzugte Lichtstimmung im Augenblick nicht gefällt, möchte ich diese ändern können.“
Indes bieten Künstliche Intelligenz und Big Data auch große Chancen. Wenn es darum geht, in komplexen Systemen mit überbordendem Datenaufkommen Muster zu erkennen, Entscheidungen zu treffen und aus diesen weiter zu lernen. „Hier stehen wir erst am Anfang“, räsoniert Müller. „Die zunehmende Rechenleistung und Vernetzung eröffnen uns Möglichkeiten, von denen wir vor einigen Jahren noch nicht einmal zu träumen wagten. Bei der Erhebung und Übermittlung der Daten kommt Licht zukünftig eine zentrale Rolle zu.“